Die ‚Ära Paul‘ in Thüringen 1945 bis 1947. Eine Quellenedition

Einführung zur Quellenedition

Die Quellenedition beruht hauptsächlich auf dem umfangreichen Fundus der im Thüringischen Landesarchiv-Hauptstaatsarchiv Weimar, im Bundesarchiv und anderen Archiven überlieferten Quellen zum landespolitischen Handeln der Amtszeit des Thüringer Landes- bzw. (seit Ende 1946) Ministerpräsidenten Rudolf Paul 1945 bis 1947. Die von der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) für das Internet aufbereitete Quellenedition verfolgt das Ziel, einen angemessenen Teil der für die im Böhlau Verlag unter dem Titel „Die ‚Ära Paul‘ in Thüringen. Möglichkeiten und Grenzen landespolitischen Handelns in der frühen SBZ“ (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, Bd. 44 1/2) erscheinende darstellende Publikation verwendeten Quellen öffentlich zugänglich zu machen und so selbst „zur Sprache zu bringen“. Auswahl ist bei Editionen stets unvermeidlich. Vollständigkeit lässt sich nie erreichen. Doch sollten die quantitativen Grenzen nicht zu eng gezogen werden, wenn eine solche Edition ein einigermaßen zureichendes Bild der Vorgänge vermitteln soll. Die mit diesem Anspruch angelegte publikationsbegleitende THULB-Quellenedition hat deshalb entsprechenden Umfang angenommen, den das Internet-Format ermöglichte. Sie ist Teil des „Editionen Portals Thüringen“[1] und als eigene Website direkt adressierbar.[2] Darüber hinaus sind alle für sie erschlossenen und aufbereiteten Dokumente als eigene Sammlung im „Kultur- und Wissensportal Thüringen“[3] recherchierbar.

Die THULB-Edition enthält in erster Linie archivalische Quellen aus Rudolf Pauls Amtszeit als Thüringer Landes- bzw. Ministerpräsident 1945 bis 1947. Sie sollen Grundlinien, Motive, Absichten und Konzepte des Wirkens Rudolf Paul und seines engeren Umfeldes dokumentieren und Einblicke in wichtige Handlungsfelder seiner Amtszeit geben. Die für diese Edition ausgewählten Quellen beziehen sich meist auf das Land Thüringen, reichen aber öfters darüber hinaus. Der Zeitraum 1945 bis 1947 deckt sich mit Rudolf Pauls Amtszeit und zugleich mit jener frühen Zeit der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ), in der ihre Entwicklungsperspektiven noch recht offen waren, die Länder über relative Eigenständigkeit verfügten und die Debatten, Konzept- und Meinungsbildungsprozesse noch unverblümt und konträr abliefen. Dieser Zeitraum ist deshalb für eine inhaltlich weitgreifende Quellenedition zu den Möglichkeiten und Grenzen von Landespolitik in der frühen SBZ besonders interessant und aufschlussreich. Eine solche Edition hat es bislang noch nicht gegeben. Die publikationsbegleitende Quellenedition zur „Ära Paul“ beschreitet also Neuland. Sie könnte ähnliche Editionen anderer „neuer Bundesländer“ anregen und zudem einen Baustein für eine bislang fehlende Quellenedition zur SBZ-Geschichte bilden, die den Ländern und Provinzen als Hauptfeldern deutschen Verwaltungs- und Regierungshandelns in der sowjetischen Besatzungszone angemessenen Raum einräumt.

Ältere Editionen zur SBZ-Geschichte aus der DDR haben sich kaum auf die Landesebene, auf Konzeptdebatten und Meinungsbildungsprozesse eingelassen oder enthielten nur berichtende Quellen der Landes- und Provinzialverwaltungen.[4] Die neuere Forschung konzentrierte sich editorisch auf die sowjetische Deutschland- und Besatzungspolitik,[5] auf die KPD/SED-Geschichte[6] oder auf einzelne Handlungsfelder wie Entnazifizierungs-, Kirchen-, „Umsiedler“-, Wissenschafts-, Gewerkschafts- und Demontagepolitik.[7] Sie hat bislang keine Gesamtedition zur SBZ-Geschichte zustande gebracht und sich mit der Landesebene nur begrenzt editorisch befasst. Von der einzigen umfassend konzipierten Quellenedition zu einer Landesverwaltung - der Mecklenburg-Vorpommerns - erschien nur der erste Band.[8] Eine Edition zur sächsischen Landesverwaltung enthielt die Protokolle ihrer Präsidialsitzungen,[9] aber keine anderen Quellen. Für Brandenburg sind nur die Protokolle des Provinzialausschusses der Blockparteien ediert worden.[10] Editionen zur Biographie des sachsen-anhaltischen Provinzial- und Ministerpräsidenten Erhard Hübener blieben bei der Auswahl von Archivquellen sehr zurückhaltend.[11]

Für Thüringen liegen ältere Editionen zur Geschichte der Arbeiterbewegung bzw. der SED vor, die kaum Quellen zur Landespolitik enthalten.[12] Als neuere Editionen ist auf die im „Thüringen-Handbuch“[13] abgedruckten Quellen, auf spezielle Editionen der Thüringer Landesverfassungen,[14] zu den Buchenwald-Kapos,[15] zum „Thüringen-Ausschuss“ 1945,[16] zur Rettung der Dichtersärge 1945,[17] zur Wiedereröffnung der Jenaer Universität 1945,[18] zum studentischen Wartburgfest 1948[19] sowie auf kleinere Editionen für Zwecke der politischen Bildung[20] zu verweisen. Eine zweibändige Edition der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung machte zwar erstmals für eines der SBZ-Länder in größerem Maße archivalische Quellen der Zeit 1945 bis 1952 zugänglich, blieb aber bei beschränktem Umfang in der Quellenauswahl sehr begrenzt.[21]

Das Gros der für die publikationsbegleitende THULB-Edition ausgewählten Quellen stellen - bisher meist unveröffentlichte - Archivquellen der Amtszeit Rudolf Pauls als Thüringer Landes- bzw. Ministerpräsident dar; darunter viele Einzelschriftstücke sowie zahlreiche Protokolle von Regierungs-, Parteien- und Parteienblock-Sitzungen, Spitzen- und Fachberatungen, internen oder halböffentlichen Debatten. Sie dokumentieren die Problemlagen und Routine-Amtsvorgänge unter Besatzungsdiktat ebenso wie Vorgänge besonders heiklen und spektakulären Charakters. Über die Archivquellen hinaus enthält die Edition auch zahlreiche normative und publizistische Quellen, mehrere Befehle und Gesetzestexte. Sie soll so ein möglichst vielfältiges Bild vom Wirken des Landes- bzw. Ministerpräsidenten Rudolf Paul und seines Umfeldes auf den wichtigsten Handlungsfeldern vermitteln, von den Kooperations- wie Konfliktverhältnissen zu Besatzungsinstanzen, SED-Gremien und Zentralverwaltungen ebenso wie von den handlungsleitenden oder konkurrierenden Konzepten und den oft kontroversen Konzeptdebatten der Akteure.

Die Quellenauswahl der THULB-Edition folgt den Grundlinien und Kapiteln der darstellenden Publikation zur „Ära Paul“. Zeitlich konzentriert sie sich auf Rudolf Pauls amtliches Wirken als Geraer Oberbürgermeister der amerikanischen und als Thüringer Landes- bzw. Ministerpräsident der sowjetischen Besatzungszeit bis zu den Vorgängen nach seiner Flucht aus der SBZ. Quellen zur biographischen, familiären und juristisch-beruflichen Vorgeschichte Rudolf Pauls vor seiner amtlichen Tätigkeit als Oberbürgermeister, Landes- bzw. Ministerpräsident einschließlich des Berufsverbotes während der NS-Zeit sind nicht in die Edition aufgenommen worden. Auch die amerikanische Besatzungszeit mit der Bildung der Provinz Thüringen und ihrer Provinzialregierung unter Hermann Brill ist nicht Gegenstand der Edition. Entsprechende Quellen sind nur dann in sie aufgenommen worden, wenn Rudolf Paul dabei als Akteur in Erscheinung trat.

Die THULB-Edition beginnt mit einigen Quellen zu Pauls Wirken als amerikanisch eingesetzter Oberbürgermeister Geras, zum Besatzungswechsel und zu Brills kurzer Amtstätigkeit nach dem Besatzungswechsel. Ihnen folgen Quellen zur Konstituierung der Landesverbände der Parteien, der Sowjetischen Militäradministration für das Land Thüringen (SMATh) und des Präsidiums der Landesverwaltung unter Rudolf Paul im Juli 1945. Einen Schwerpunkt der Quellenauswahl für 1945/46 bilden die in den Kapiteln VII bis XI der darstellenden Publikation behandelten Handlungsfelder der Landesverwaltung und ihres Präsidialbereiches einschließlich des Aufbaus der Landesverwaltung und der Militäradministration, der Parteienbildung, der Tätigkeitsaufnahme wichtiger Institutionen und Bereiche, Justiz, Gesetzgebung, Entnazifizierung, Wiederaufbau, Planung und Interzonenhandelsansätze. Einen zweiten Schwerpunkt der für 1945/46 ausgewählten Quellen bilden die im Kapitel XII der darstellenden Publikation behandelten Vorgänge wirtschaftlicher „Neuordnung“; besonders der fundamentale „Bankenbefehl“ sowie die anfangs eigenständigen, dann dem SBZ-Muster folgenden Bodenreform- und Sequestrationswege. Wie die Quellen aus den beiden folgenden Amtsjahren der „Ära Paul“ beziehen sich viele dieser Quellen auf die Interaktionen mit dem SMATh-Verwaltungschef und anderen Besatzungsinstanzen. Sie berühren damit wichtige Aspekte des Besatzungsregimes, der sowjetischen Militäradministration und ihres Befehlswesens.

Die weitere Quellenauswahl für die Jahre 1946/47 bezieht sich auf die in den Kapiteln XIII und XIV der darstellenden Publikation behandelten Vorgänge. Sie reicht von den Konflikten mit den Berliner Zentralverwaltungen, dem kultur- und bildungspolitischen „Neubeginn“ und den Interzonenkontakten über vorparlamentarische Bilanzen, Tagungen und Gremien, Pauls SED-Beitritt und seinem gespannten Verhältnis zur SED-Landesleitung bis zu Landtags- und Regierungsbildung und Verfassungsgebung Ende 1946; dann vom versuchtem „Umbau der Besatzungspolitik“ Anfang 1947 über mehrfache Regierungskrisen und sich erneut zuspitzende Konflikte mit den Zentralverwaltungen bis zu den dramatischen Vorgängen um die zunächst vierzonal gedachte Münchener Ministerpräsidentenkonferenz und zu der insgesamt „angespannten Lage“ vom Sommer 1947 im Vorfeld von Pauls Flucht. Für Rudolf Paul stellten diese Vorgänge seines „Schicksalsjahreses 1947“ tiefe Zäsuren und wichtige Gründe für seine Flucht aus der SBZ dar. Deshalb sind sie in der Edition ausführlich dokumentiert worden, wobei auch die von den SED-Landesleitungen in diesem Kontext angeforderten Charakteristiken der SBZ-Ministerpräsidenten Eingang fanden.

Die THULB-Quellenedition schließt die Vorgänge nach Pauls Flucht in die amerikanische Besatzungszone ein: die Fahndungsvorgänge, die politischen und publizistischen Reaktionen auf die Flucht, Pauls Münchener Rückkehr in die Öffentlichkeit im Dezember 1947, sein Bemühen um Wiederzulassung als Rechtsanwalt und Notar in Frankfurt/M 1948 und um Entschädigung für das Berufsverbot während der NS-Zeit, sein Verwaltungsgerichts-Verfahren 1953 bis 1961 um Anerkennung als SBZ-Flüchtling und mehrere der in diesem Verfahren abgegebenen Stellungnahmen. Sie sind für die nachträglichen kontroversen Sichtweisen auf die SBZ im bundesdeutschen Flüchtlingsmilieu ebenso aufschlussreich wie für die politische Kultur der frühen Bundesrepublik. Nur in diesem Teil zur Wirkungszeit Rudolf Pauls in Hessen seit 1948 enthält die Quellenedition in größerem Umfange rückblickende Dokumente. Quellen zum amtlichen Wirken Pauls bis 1947 stammen meist aus der Handlungszeit selbst. Nur vereinzelt sind sie mit späteren Rückblicken gekoppelt. Die abschließenden Teile der Quellenedition enthalten erinnernde Dokumente und Interviews, nachträgliche Auskünfte sowie die Schrift „Wer auf einem Tiger reitet…“, die Rudolf Paul nach seiner Flucht in die amerikanische Besatzungszone geschrieben hat.


[1]https://www.editionenportal.de/

[2]https://projekte.thulb.uni-jena.de/quellen-rudolf-paul

[3]https://www.kulthura.de/

[4] Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland (1968/D); Geschichte des Staates und des Rechts (1984/D); Berichte der Landes- und Provinzialverwaltungen (1989/D).

[5]Bonwetsch u.a.: Sowjetische Politik in der SBZ (1998/D); Mironenko u.a.: Sowjetische Speziallager (1998/F), Bd. 2: Laufer/Kynin: Die UdSSR und die deutsche Frage (2004/12/D), 4 Bde.; Sacharow u.a.: Dejatjelnostij (2004/D); Möller/Tschubarjan: Die Politik (2005/D); Petrow u.a.: SWAG (2006/D); Scherstjanoi: Das SKK-Statut (1998/D); Foitzik/Petrow: Die sowjetischen Geheimdienste (2009/D); Foitzik: Sowjetische Interessenpolitik (2012/D); ders.: Sowjetische Kommandanturen (2015/D); als Befehlsinventare Foitzik: Inventar (1995/D); Geßner: Befehle (1997/D); Geßner/Sacharow: Inventar (2002/D); Brunner: Inventar (2003/D); als Edition der Notizen des SED-Co-Vorsitzenden Pieck über Gespräche mit Repräsentanten der sowjetischen Besatzungsmacht Badstübner/Loth: Wilhelm Pieck (1994/D).

[6] 6 Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung? (1990/D) (1990/91/D); Benser/Krusch: Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland (1993-1997/D), 6 Bde.; Keiderling: „Gruppe Ulbricht“ (1993/D); Erler u.a.: „Nach Hitler kommen wir“ (1994/D); Malycha: Auf dem Weg in die SED (1995/D).

[7] Vollnhals: Entnazifizierung (1990/D) [für alle vier Besatzungszonen); Rößler: Die Entnazifizierungspolitik (1994/D); Seidel: Aus den Trümmern 1945 (1996/D); Wille: Die Vertriebenen in der SBZ/DDR (1996-2003/F), 3 Bde; [für Thüringen ders.: Gehasst und umsorgt (2006/D); für Sachsen Thüsing/Tischner: „Umsiedler“ (2005/D)]; Malycha: Geplante Wissenschaft (2003/D); Mielke u.a.: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (2011/D); Neitmann/Laufer: Demontagen (2014/D).

[8] Brunner: Die Landesregierung (2003/D); nur Bd. 1.

[9] Thüsing: Das Präsidium (2010/D).

[10] Reinert: Protokolle (1994/D).

[11] Tullner/Lübeck: Erhard Hübener (2001/D); Wille: An der Spitze (2001/D); nur auf die Münchener Ministerpräsidentenkonferenz bezogen Haase/Gehrmann: Zur Teilnahme (1997/D).

[12] Dokumente und Materialien zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Thüringen 1967/1978, hg. von der SED-BL Erfurt.

[13] Post/Wahl: Thüringen-Handbuch (1999/F).

[14] Riege u.a.: Dokumente (1991/D).

[15] Niethammer: Der >gesäuberte< Antifaschismus (1994/D).

[16] Wahl: Der „Thüringen-Ausschuß“ (1997/D).

[17] Wahl: Die Rettung der Dichtersärge (1991/D).

[18] John u.a.: Die Wiedereröffnung (1998/D).

[19] John: „Stellt alles Trennende zurück!“ (2010/D).

[20] Post: 75 Jahre Freistaat Thüringen (1995/D); Schley: Thüringen 1945 (2016/D).

[21] John: Quellen zur Geschichte Thüringens 1945-1952 (1999/D), 2 Halbbände.


Bildunterschrift Banner: 
Foto anlässlich des zweiten hessischen Staatsbesuchs in Thüringen 11. bis 13. August 1946. Ausschnitt.
Links der Verwaltungschef der Sowjetischen Militäradministration für das Land Thüringen Iwan S. Kolesnitschenko; rechts der US-Militärgouverneur für das Land Hessen James R. Newman; in der Mitte stehend der Thüringer Landespräsident Rudolf Paul.
LATh-HStA Weimar, Nachlass Rudolf Paul, Fotos Nr. 29r.